Die Ukraine-Krise und die Aussichten für eine europäische Integration

Maidan in Kiew
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Der Maidan in Kiew im März 2014

Bereits vier Monate dauert die äußerst tiefgehende gesellschaftliche und politische Krise in der Ukraine an, die schärfste Krise seit der Unabhängigkeit des Landes. Die erste Phase der Krise zeitigte massenhafte Proteste gegen das Regime Janukowytsch und führte zu dessen Sturz. Die zweite Phase, die Ende Februar auf der Krim begann, erfolgte durch das Vorgehen Russlands und die Besetzung der Krim durch russische Truppen. Damit besteht das Risiko einer Spaltung der Ukraine und einer Aggression Russlands in Richtung der übrigen Landesteile.

Obwohl die Krise anfangs vorwiegend auf innenpolitische Gründe zurückzuführen war, war es die Frage der außenpolitischen Orientierung des Landes, die zum unmittelbaren Auslöser der Krise wurde; diese Frage beeinflusste in erheblichem Maße auch deren weiteren Verlauf. Mit der Zeit spielte der Einfluss externer Akteurinnen und Akteure eine immer bedeutendere Rolle. Im Kern handelt es sich bei der Ukraine-Krise um eine drastische Zuspitzung der Auseinandersetzung über das Entwicklungsmodell des Landes, darum, ob dieses Modell ein europäisches oder ein postsowjetisches sein wird, und ob außenpolitisch eine europäische oder eine eurasische Integration der Ukraine angestrebt wird.

Voraussetzungen der Ukraine-Krise

Die Ukraine-Krise entstand nicht zufällig. Wichtigster Ausgangspunkt war die Krise des postsowjetischen Entwicklungsmodells in der Ukraine, die Krise eines neopatrimonialen und oligarchischen Politik- und Wirtschaftssystems. Gleichzeitig handelte es sich um eine Krise der ambivalenten („multivektoralen“) Außenpolitik des Landes, die auf ein simultanes Engagement sowohl mit dem Westen als auch mit Russland ausgerichtet war.

Eine äußerst wichtige Voraussetzung für die Krise in der Ukraine ist in der beträchtlichen ethnokulturellen Heterogenität der ukrainischen Gesellschaft zu sehen: In Bezug auf Identität und politische Haltung des Volkes bestehen in den verschiedenen Regionen des Landes erhebliche Unterschiede. Der eine Teil der Ukraine ist historisch nach Westen orientiert, auf die europäische Zivilisation, ein anderer Teil war über viele Jahrhunderte mit Russland verbunden und bewahrt überwiegend eine Orientierung an der russischen Zivilisation.

Der Ausbruch der Krise wurde auch durch die Tradition politischer Massenproteste in der Ukraine begünstigt, die Unabhängigkeitsbewegung 1989-1991, die Bergarbeiterstreiks 1993, die Protestkampagne „Eine Ukraine ohne Kutschma“ 2000/2001, die Orangene Revolution 2004.

Gründe der Krise

Das Regime Janukowytsch hat den patrimonialen und oligarchischen Charakter des politischen und wirtschaftlichen Systems in der Ukraine auf ein Maximum gesteigert und es eben dadurch an den Rand des Zusammenbruchs gebracht.

Während der Präsidentschaft Janukowytschs haben sich die autoritären Tendenzen verstärkt; es entstand ein Polizeistaat, allerdings mit demokratischer Fassade. Das wiederum machte den Einsatz öffentlicher, demokratischer Protestformen möglich.

Die Korruption, die in der Ukraine vorher bereits gewuchert hatte, nahm nun einen systemimmanenten, nahezu totalen Charakter an. Präsident Janukowytsch wurde dabei zum wichtigsten Oligarchen des Landes. In seiner Umgebung formierte sich ein neuer korrupter und kleptokratischer Klan (die so genannte „Familie“), der das ganze Land – angefangen bei Großunternehmen bis zu den staatlichen Strukturen und Kleinunternehmen – mit Tribut belegte.

Die ineffiziente und inkonsequente Innen- und Außenpolitik des Regimes Janukowytsch führte zu einer erheblichen Verschlechterung der sozialen und wirtschaftlichen Lage des Landes und zu wachsenden sozialen und politischen Spannungen.

Von Anfang an war über die Hälfte der ukrainischen Gesellschaft dem Regime Janukowytsch gegenüber kritisch eingestellt. Die Akkumulierung und Verstärkung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme sorgte während der Präsidentschaft Janukowytschs für vermehrte Proteste: Proteste der Unternehmerinnen und Unternehmer 2010 gegen das Steuergesetzbuch, Proteste im Herbst 2011 gegen die Beschneidung der sozialen Vergünstigungen für verschiedene gesellschaftliche Gruppen, Proteste gegen die Manipulationen bei der Stimmauszählung bei den Parlamentswahlen 2012.

Unmittelbare Gründe für den Beginn der Krise

In der Ukraine reifte eine neue Revolution heran. Erwartet wurde sie für die Zeit der Präsidentschaftswahlen, doch setzten die „Revolutionswehen“ dann früher ein, in der Folge einer Reihe von Maßnahmen Janukowytschs, die in der Bevölkerung für heftigen Unmut sorgten.

Zum einen erfolgte eine scharfe Wende des außenpolitischen Kurses (der Verzicht auf eine Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU), während in einem beträchtlichen Teil der Gesellschaft hitzige und überhöhte proeuropäische Erwartungen bestanden. Am 22. November kam es in Kiew und dann auch in anderen großen Städten des Landes zu Massenaktionen für eine europäische Integration der Ukraine – es begann der Euromajdan.

Der sprichwörtliche letzte Tropfen, der die Krise auslöste, war der demonstrativ heftige Einsatz von Gewalt gegen Teilnehmer des Majdan in Kiew (die Ereignisse vom 30.11.2013).

Revolution in nationalen Farben und mit europäischen Symbolen

Es war eine Revolution in den Farben der Nationalflagge (eine Nationale Revolution) und in den Farben der EU (eine Proeuropäische Revolution). Die Krise begann mit friedlichen Protesten, ging dann aber in Straßenkämpfe mit den Sondereinheiten der Miliz über, denen rund 100 Menschen zum Opfer fielen. Durch die heftige Konfrontation mit dem Regime erfolgte eine Radikalisierung der Proteste, die schließlich zum Sturz des Regimes Janukowytsch führten.

Evolution der Forderungen der Protestbewegung

Nach Umfragen der Stiftung „Demokratische Initiativen“, die auf dem Majdan in Kiew durchgeführt wurden.
Anmerkung: Die Prozentwerte geben die Zustimmung zu den genannten Forderungen zum jeweiligen Zeitpunkt wider. Mehrfachnennungen waren möglich.


Die Ergebnisse der Studien lassen erkennen, dass die Forderungen der Protestierenden vor allem politischer Art waren. Die Radikalisierung der Proteste erfolgte in der Endphase, nach den gewaltsamen Zusammenstößen mit der Miliz und den ersten Todesopfern. Dadurch trat die Forderung nach einer europäischen Integration, die anfangs noch als eine der wichtigsten rangierte, zunächst in den Hintergrund.

Der Sieg der Revolution jedoch hat die Frage der europäischen Integration und der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU wieder zu einer der Prioritäten gemacht.

Die zweite Phase der Ukraine-Krise

Die zweite Phase der Ukraine-Krise besteht in der direkten Einmischung Russlands in die inneren Angelegenheiten der Ukraine: in der Besetzung der Krim und deren Loslösung von der Ukraine sowie in der Provozierung und Unterstützung einer separatistischen Bewegung in den russischsprachigen Regionen der Ukraine.

Der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin kann sich nicht mit dem Sieg der Revolution abfinden und versucht, durch unmittelbares militärisches Eingreifen auf dem Territorium des Landes sowie durch eine separatistische Konterrevolution in den russischsprachigen Regionen der Ukraine eine Niederlage beizubringen.

Das Minimalziel ist die Abtrennung der Krim von der Ukraine und ihre anschließende Eingliederung in die Russische Föderation. Das Maximalziel ist die Zerstörung der gegenwärtigen ukrainischen Staatlichkeit.

Die „milde“ Variante wäre hierbei eine Föderalisierung der Ukraine (genauer gesagt, deren Umwandlung in eine Konföderation bei maximaler Autonomie der russischsprachigen Regionen) mit einer drastischen Verstärkung des direkten Einflusses auf die innenpolitischen Prozesse in der Ukraine und dem Ziel, eine euroatlantische und europäische Integration der Ukraine zu blockieren.

Die „harte“ Variante wäre eine Spaltung des Landes, bis hin zu einer Besetzung eines Teils des ukrainischen Territoriums.

Zur Umsetzung seiner Strategie nutzt Russland die prorussischen und gegen den Majdan gerichteten Stimmungen in den russischsprachigen Regionen der Ukraine aus. Nach Angaben von Fachleuten haben auf dem des Höhepunktes des politischen Widerstandes in der Ukraine 48 Prozent der Bürger des Landes den Majdan (die Gegner Janukowytschs) unterstützt; rund 46 Prozent äußerten sich kritisch zum Majdan (Daten der Ende Januar 2014 landesweit durchgeführten en Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie und des Zentrums SOCIS). Die absolute Mehrheit der Gegnerinnen und Gegner des Majdan war in den russischsprachigen Regionen des Landes konzentriert. 12 Prozent der Gesamtbevölkerung unterstützen eine Vereinigung der Ukraine und Russlands zu einem Staat (so die Ergebnisse einer Mitte Februar 2014 durchgeführten landesweiten Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie und der Stiftung „Demokratische Initiativen“), wobei sich dieser Wert in den letzten Jahren von 20 Prozent auf 9 Prozent verringert hatte und nach dem Majdan wieder auf 12 Prozent gestiegen ist. Die meisten Anhängerinnen und Anhänger einer Vereinigung mit Russland gibt es demnach auf der Krim mit 41 Prozent (2013 waren es noch 36 Prozent), im Gebiet Donezk mit 33 Prozent und in den Gebieten Luhansk und Odessa mit jeweils 24 Prozent.

Die Aussichten für eine Regulierung der Krise in der Ukraine werden davon abhängen, welche der Varianten Russland als seine Krisenstrategie wählen wird. Und davon, ob es der internationalen Gemeinschaft gelingt, Russland von einer weiteren Stufe der Aggression gegen die Ukraine abzuhalten. Ebenso wird es darauf ankommen, wie sich die Situation in den russischsprachigen Regionen des Landes entwickelt. Und wiederum ist die Frage der europäischen Integration eines der Schlüsselmomente bei der Suche nach einem Ausweg aus der Krise in der Ukraine.

Perspektiven einer europäischen Integration der Ukraine

Die neue ukrainische Regierung strebt eine möglichst baldige Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU an. Auch die Europäische Union ist hierzu bereit. Das Problem besteht aber darin, den Einsatz der Mechanismen für eine umfassende und tiefgreifende Freihandelszone vorzubereiten.

Die Frage einer weiteren Integration in die EU jedoch bleibt offen. Zum einen ist die öffentliche Meinung zur Frage des zukünftigen Integrationsvektors gespalten. Laut den Ergebnissen der bereits erwähnten Studie des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie und des Zentrums SOCIS von Ende Januar 2014 traten 44,5 Prozent der Befragten für einen Beitritt der Ukraine zur EU ein; 36 Prozent waren für eine Mitgliedschaft in der (eurasischen) Zollunion. Dieses Problem wird sich im Zuge der Krise verschärfen. Andererseits ist auch die Europäische Union selbst nicht gänzlich bereit zur Integration eines so großen und widersprüchlichen Landes wie der Ukraine.

Wird es für die Ukraine die Chance für eine zukünftige Mitgliedschaft in der EU geben? Diese wird nur dann möglich werden, wenn gleichzeitig drei Bedingungen zum Tragen kommen: (1) schnelle und erfolgreiche Reformen in der Ukraine, Überwindung der allgegenwärtigen Korruption und eine hohe Dynamik demokratischer Transformation und sozioökonomischen Wachstums; (2) Überwindung der gegenwärtigen Krisenerscheinungen in der EU; (3) Positionswechsel der EU-Führung sowie der Regierungen führender Mitgliedsstaaten in Bezug auf einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine.

Es ist jedoch ein Problem zu beachten, das auf dem Weg einer europäischen Integration der Ukraine Überraschungen bereithalten könnte, nämlich das Phänomen der überhöhten Erwartungen an eine europäische Integration, die bei einem beträchtlichen Teil ihrer Anhängerinnen und Anhänger bestehen. Während des Majdans wollte man die Einführung von Sanktionen gegen Janukowytsch. Nun wird von der EU und den USA eine aktive Hilfe zum Schutz der Ukraine gegen die Aggression Russlands erwartet. Ebenso werden von einer europäischen Integration schnelle Wunder erwartet. Überhöhte Erwartungen können in Enttäuschung umschlagen. Andererseits wird die Konfrontation mit Russland die Ukraine unweigerlich in Richtung EU treiben.

Perspektiven der Östlichen Partnerschaft im Kontext der Ukraine-Krise

Bereits im November 2013 wurde in den Diskussionen auf dem Gipfeltreffen der Östlichen Partnerschaft in Vilnius sowie auf einer Konferenz von Vertretern der Zivilgesellschaft die Frage eines qualitativen Umbaus der Östlichen Partnerschaft der EU aufgeworfen. Der Bedarf für eine strukturelle Differenzierung des Programmes ist offensichtlich. Die Länder, die ein Assoziierungsabkommen mit der EU anstreben (Ukraine, Moldau, Georgien) brauchen neue Orientierungspunkte und ein spezielles Programm für eine weitere Integration in den wirtschaftlichen und politischen Raum der Europäischen Union.

Die Ukraine-Krise stellt sowohl die EU als auch deren Östliche Partnerschaft vor neue Herausforderungen. Notwendig sind der Aufbau eines neuen europäischen Sicherheitssystems und zusätzliche Sicherheitsgarantien für jene Partnerstaaten der EU, die an ihren östlichen Grenzen liegen.

 

 

Übersetzung: Hartmut Schröder